Materialwirtschaft: Was ist was?      5.Teil                                 

 



Das RADIX-Bestellverfahren ist ein neueres Verfahren für die Materialwirtschaft. Es stellt eine statistische Vereinfachung des bekannten Harris/Andler-Verfahrens zur Bestimmung optimaler Bestellmengen dar und dient der einfachen Bestellbestands-Steuerung in einem statistischen Materialwirtschaftssystem.
Es erweist seine Stärke dort, wo Varianzen und Zufallsereignisse deterministische Systeme überspielen, und harmoniert mit der fast zeitgleich entwickelten "Varianzgesteuerten Disposition". Das RADIX-Verfahren strebt nicht die Perfektionierung des Einzelvorgangs an, sondern die Optimierung und Steuerung eines Bestellsystems über einen weiten Bereich von Materialien und eine große Anzahl einzelner Teile.

Ganz nebenbei werden grundlegende Zusammenhänge wie Zyklusbestände und Staffelpreise verdeutlicht oder der Einfluss von Fertigungslosgrößen.

Durch die Einführung zweier Systemvariablen verknüpft das RADIX-Verfahren
- die Bestellmenge mit der Bestellhäufigkeit und
- dem Zyklusbestand im Lager mit der Anzahl der Bestell-, Einlagerungs- und Rechnungsaktionen.
Hergeleitet habe ich es 1989 aus dem Harris/Andler-Ansatz und in einem deutschen Maschinenbau-Unternehmens mit großem Erfolg eingesetzt.


A. Der Harris/Andler-Ansatz


Bestellmengenabhängige Kosten Kx - und nur um diese geht es hier, also nicht um Fixkosten der beteiligten Unternehmensbereiche oder um Beschaffungsvolumina (sie verschwinden bei der Minimum-Bestimmung ohnehin) - sind

- vorgangsabhängige Kosten Kv, also Kosten für Bestellung, Einlagerung, Rechnungsbearbeitung etc. Sie sind proportional zu den Bestellkosten BK und zur Bestellhäufigkeit H ( = Periodenverbrauch (Vp) geteilt durch übliche Bestellmenge X):
    (1)            Kv = BK*H = BK*Vp/X.

- bestellwertabhängige Kosten Kw wie Kapitalkosten, Lagerungskosten etc. Sie sind proportional dem Einzelpreis EP und sollen wie Zinskosten betrachtet werden mit einem Lagerhaltungssatz LH. In erster Näherung ist der halbe Bestellwert lagerhaltig ("Zyklusbestand ZB"), so dass sich die Periodenverzinsung ergibt zu   
    (2)            Kw = 0,5*X*EP*LH
(LH ist hier nicht, wie üblich, als [%] dimensioniert, sondern als [1]
und bezieht sich auf den gewählten Betrachtungszeitraum, zumeist ein Jahr).

Die Kostenfunktion lautet dann
    (3a)            Kx = Kw + Kv = 0,5*X*EP*LH + BK*Vp/X
und ihr Differential
    (3b)             dKx/dX = 0,5*EP*LH - BK*Vp/X^2   
welches bei der optimalen Bestellmenge Xo verschwindet,
    (3c)               0 = 0,5*EP*LH - BK*Vp/Xo^2
so dass man erhält

    (4a)         BK*Vp/Xo^2 = 0,5*EP*LH
    (4b)            Xo^2 = (2*Vp*BK) / (EP*LH)
    (4c)            Xo   = WURZ{(2*Vp*BK) / (EP*LH)}                        
(die Quadratwurzel geschrieben als "WURZ{r}" )

Soweit Harris/Andler, deren Ansatz leider oft schon deshalb vom Tisch gefegt wird, weil er Parameter als konstant annimmt, welche im Laufe einer praktikablen Periode (zumeist wird ein Jahr gesetzt, aber jede andere Zeitspanne ist möglich) offensichtlich variieren. Das betrifft insbesonders die anzupassende Bestellmenge X und den Periodenverbrauch Vp, welche im Computer-Zeitalter aber problemlos dynamisiert werden können.


B. Die neuen Systemvariablen "Bestellparameter" und "Radix"

Nimmt man hingegen angesichts der großen Varianzen im Umfeld der Materialwirtschaft von deterministischer Planung Abstand, dann führt dieser Ansatz bei statistischer Betrachtungsweise zu einem steuerbaren Bestellsystem. So kann man in praxi sehr wohl davon ausgehen, dass für weite Bereiche des Materialspektrums sowohl die Kosten einer Bestellung incl Folgekosten als auch die Lagerungskosten unternehmensspezifisch hinlänglich feststehen. Das gilt ganz sicher für Rohstoffe und Handelswaren, aber auch für ganze Gruppen von Fertigungsteilen, deren Losgrößenoptimierung im Sinne der Materialbewirtschaftung zumeist unterbleibt.

Die obige Formel 4c wird nun mathematisch umgeformt zu
    (5a)            Xo = WURZ{2*BK/LH} * WURZ{Vp/EP}             und weiter zu
    (5b)            Xo = WURZ{2*BK/LH} * WURZ{Vp*EP/EP^2}

Wie dargelegt, ist der 1.Radikant hinlänglich konstant, weshalb als Systemvariable der Bestellparameter
    (6a)            PA = WURZ{2*BK/LH}
eingeführt wird. Mit der Ausgliederung von EP^2 wird dann 5b zu
    (6b)            Xo = (PA/EP) * WURZ{Vp*EP}

Dieser letztere Radikant aber ist als Wert des Periodenverbrauchs teilespezifisch und passt sich dem Materialeinsatz an. Damit werde die neue teilespezifische Systemvariable "Radix" RX definiert:
    (6c)            RX = WURZ{Vp*EP}    

Mit diesen beiden Systemvariablen PA (s.6a) und RX (s.6c) erhalten wir
- teilespezifisch:
    (7a)        optimale Bestellmenge            Xo  = (PA/EP)*RX
    (7b)        optimaler Bestellwert             XW =        PA*RX
    (7c)        optimale Bestellhäufigkeit       Ho  = ( 1/PA )*RX
    (7d)        statistischer Zyklusbestand    XB  =  0,5*PA*RX

- über alle Teile gleichen Bestellparameters PA
    (8a)        Anzahl der Bestellungen              Hog = ( 1/PA)*SUMME{RXi}
    (8b)        statistischer Zyklusbestand         XBg = 0,5*PA*SUMME{RXi}
                      (die Summation geschrieben als "SUMME{i}")


Die Summe der Radizes aller Materialien eines PA führt also sofort zur Bestimmung von Zyklusbeständen und Bestellvorgängen, und die Variation des Bestellparameters gibt die Möglichkeit, Verwaltungskosten und Kapitalbindung auszubalancieren. Zum erstmaligen Ansatz kann man den Bestellparameter aus der bisherigen Anzahl der Bestellvorgänge Hg ableiten
    (8c)              PA = (1/Hg)*SUMME{RXi}
was weit praktikabler ist als das Zusammenstellen aller relevanter Kosten.

Die Erkenntnis dieser Zusammenhänge, welche sich aus der Anwendung der Harris/Andler-Formel ergeben, ermöglicht es den Verantwortlichen sehr schnell, das Potential einer Optimierung des Zyklus-Bestandes und den erforderlichen Arbeitsaufwand abzuschätzen.

Der Bestellparameter steuert Bestände und Arbeitsaufwand

Anmerkungen:


1. O.a. Formel 7c zur Bestimmung der Bestellhäufigkeit H mag nicht sofort einleuchten:
Per definitionem gilt
   (7c0)       Bestellhäufigkeit     H  = Vp : X
Nun folgt
       wg 7a                              Ho = Vp : (RX*PA/EP)
                                                    = Vp*EP : (RX*PA)
       wg 6c                                    = RX^2 : (RX*PA) 

      also (7c)                           Ho = RX : PA

2. Der Zyklus-Faktor "0,5" in o.a. 7d & 8b gilt strenggenommen nur für gleichmäßigen Materialabgang; er kann natürlich verallgemeinert und dann spezifiziert werden, was in praxi allerdings kaum erforderlich sein dürfte. Aber progressive und degressive Abläufe könnten berücksichtigt werden.

 
C. Weitere Lösungen

c1. Varianzgesteuerte Disposition
Bei konsequentem Einsatz des Radix-Verfahrens folgt die Materialbewirtschaftung den Marktbewegungen und kann zudem über den Bestellparameter gesteuert werden. In einem statistischen Materialwirtschaftssystem steuert das RADIX-Verfahren über den Bestellparameter die Zyklusbestände, die Varianzgesteuerte Disposition über den Servicegrad implizit die Sicherheitsbestände. Bei Verknüpfung dieser beiden Verfahren muss beachtet werden, dass der Periodenverbrauch Vp keinesfalls aus der Analyse des Kurzfristbedarfes abgeleitet werden darf, sondern aus dem Gesamtverbrauch hochzurechnen ist.

c2. Spezifische Bestellparameter
Für den Einsatz bei (unfertigen) Erzeugnissen mit ihren zumeist sehr unterschiedlichen Rüstkosten ist es zweckmäßig, den Bestellparameter durch einen teilespezifischen Rüstfaktor fR zu erweitern: An die Stelle des einfachen Bestellparameters PA tritt der spezifische Bestellparameter
    (9a)            PS = fR*PA.
Dieser Faktor beschreibt das Verhältnis der mengenunabhängigen (!) Rüstkosten RKi des betreffenden Arbeitsplans zu einem geeigneten Richtwerwert RKo:
    (9b,c)            fRi^2  =  RKi : RKo     bzw       fRi = WURZ{RKi/RKo}        

Dieser Faktor variiert die Bestellkosten BK in der Harris/Andler-Formel, weshalb als Rüstkosten anzusetzen ist der Grenzrüstaufwand für alle Arbeitsgänge, die ein Teil durchläuft, und zwar unabhängig von der Losgröße. Sind die in die Fertigungskosten einkalkulierten Rüstkosten nicht vernachlässigbar, muss der Einzelpreis für das RADIX-Verfahren um diese bereinigt werden.

Der spezifische Bestellparameter PS wächst also - in 1.Näherung - mit der Wurzel der Rüstkosten RKi:  
    (9d)            PS2 : PS1 = WURZ{RK2} : WURZ{RK1}

Die Werkstattbestände werden sich jetzt analog zu den Zyklusbeständen entwickeln, so dass die Variation des Bestellparameters hier eine noch größere Wirkung zeigt.

Optimierte Fertigungslose beeinflussen die Kapitalbindung doppelt!

Nun kann man nach derselben Methode beliebig weitere Faktoren einführen. Großen Aufwand im Wareneingang (Kontrolle!) kann der Rüstfaktor berücksichten. Sehr billiges Material könnte einen übermäßig großen Lagerraum beanspruchen (zB die "berüchtigten" Putzpapierrollen), was durch Variation des Lagerhaltungssatzes LH aufgefangen werden mag - analog (aber im umgekehrten Verhältnis!) zur obigen BK-Variation.
In den meisten Fällen ist es aber weit zweckmäßiger, Filter wie z.B.eine Höchstgrenze für das betreffende Material einzusetzen, anstatt das bewährte Steuerungssystem durch allzu viele Erweiterungen "aufzubohren". Denn dadurch geht die Einfachheit verloren, während womöglich die Feinheiten in der großen Zahl untergehen.

Achtung: Die spezifische Faktoren stets im Verhältnis zu einem geeigneten Basiswert "1" definieren und nicht die Wurzelfunktion vergessen!

c3. Staffelpreise
Ein sehr beliebtes und bewährtes Abfallprodukt des RADIX-Verfahrens war die schnelle Beurteilung von Staffelpreisen. Die optimalen Bestellmengen Xoi verhalten sich nämlich umgekehrt wie die Quadratwurzeln ihrer Einzelpreise
    (9e)            Xo2 : Xo1 = WURZ{EP1} : WURZ{EP2}

Errechnet sich hiernach bei einem niedrigeren Angebot EP2 eine Bestellmenge Xo2, welche über der Mindestmenge des Staffelpreises EP2 liegt, ist das Staffelangebot günstiger - natürlich nur nach diesen Kriterien, die sich aber als äußerst praxisnah erwiesen haben.
Diesen Zusammenhang habe ich anderweitig noch nicht beschrieben gefunden...

Optimale Bestellmengen verhalten sich umgekehrt zu den Wurzeln  ihrer Einkaufspreise

 

 


Literatur   
        http://de.wikipedia.org/wiki/Andlersche_Formel
        http://de.wikipedia.org/wiki/Optimale_Bestellmenge

       Weiterführend, aber weniger für die Praxis - eine elegante Anwendung wird nicht erkannt,
       da es um theoretische Genauigkeit geht, nicht um praktischen Nutzen.


  

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Neumünster, 21.12.2011      *      Egbert W Gerlich     *     egbert@tasar-org.de